Dann und wann, wenn der Turmwächter vom Gügelerturm herunterspähte, zogen wie Nebelschwaden flüchtige Fetzen der Erinnerung vorüber. Er sah sich selbst, wie er auf der Schlosstreppe stand und Geige spielte – stolz und voller Pläne. Mal lockend und neckisch, mal feierlich und gemessen schallten seine Lieder über den Hauptplatz, schwangen sich durch die Gassen, schlüpften unter den Türritzen der Holzhäuser hindurch in die dunklen Stuben und entzündeten klingende Funken. Und wie immer sah er aus der Hintergasse Rosa heranhüpfen – ein junges Mädchen. Die Schritte leicht, die Glieder elfengleich, wiegte sie sich im Takt seiner Musik.
Doch diese Zeiten waren vorbei. Als die Franzosen einfielen und ihn in ihre Dienste zwangen, verblassten seine Träume, die Hoffnung schwand. Gefangen auf fremden Schlachtfeldern vergass er den eigenen Namen und mit ihm die Musik.
Seine Geige schwieg. Denn ihre Töne formten keine Melodien mehr, verklangen in seinem Kopf, ohne Widerhall zu finden. Die Seele des Turmwächters war verstummt. Und irgendwann verstummte auch er selbst.
Die Menschen der Stadt, auf die er Stunde um Stunde herunterblickte –, sie brauchten seine Lieder nicht und auch nicht seine Worte. Der Holzschitter, der mit seinem Sägebock von Haus zu Haus zog. Die Kinder der Wäscherin, die sich im Totenhüsli die angeschwemmten Leichen ansahen. Der Sohn des Posamenters, der den betrunkenen Vater aus dem Schützenhaus heimholte. Der Fischer, der mit seinem Kahn das Hafentor passierte, und auch Rosa – inzwischen eine Frau. Sie alle lebten und gingen ihres Wegs, ohne ihn wahrzunehmen.
Die Nächte waren lang und dunkel. Alle Stunden stiess der Turmwächter in die Trompete, um die Zeit anzuzeigen, und der Nachtwächter antwortete. Der Schein seiner tanzenden Laterne war das einzige, das die Dunkelheit erhellte. Nur manchmal, wenn eine Frau im Kindbett lag, sah der Turmwächter das Licht der Hebamme durch die Gassen irrlichtern. Seit die Vögte verschwunden waren, stand das Schloss leer. Von den johlenden Vagabunden im Gefängnis unter dem Turm abgesehen, war der Turmwächter allein.
Sich selbst abhanden gekommen, spürte er nicht einmal mehr die Lücke seiner verlorenen Träume. Leer glitt sein Blick über das Treiben der Stadt, schweifte über den See zu den Bergen und erhob sich himmelwärts zu den Möwen, wo aller Lärm verebbte. Das Gemurmel der Pilger, das Donnern der Vorderlader auf dem Lindenhof – er hörte es nicht mehr. Tag und Nacht zerflossen, Wachen und Träumen vereinten sich zu einer endlosen Dämmerung, in der die Gedanken des Turmwächters mit den Möwen davonflogen, bis keiner mehr übrig war. Schwebend zwischen Himmel und Erde wartete er in seinem Turm und wachte, wenn er auch längst nicht mehr wusste, was er eigentlich schützte.
Eines Nachts aber hielt ein heller Schein seinen Blick fest, ein glühendes Rot fesselte seine Gedanken. Ennet der Hintergasse brannte es. Feuer! Feuer! Laut stiess der Turmwächter in sein Horn und sein Ruf schallte über die ganze Stadt. Feuer!, zeigte er mit lodernder Fackel an. Feuer über dem Curti-Haus, neben dem seine Rosa wohnte! Und zum ersten Mal seit Jahren verliess der Turmwächter seinen Posten. Er hastete die Holzstiege hinab, fasste beim Brunnen einen Eimer und stürzte sich Rauch und Hitze entgegen. Die ganze Stadt war auf den Beinen und löschte.
«Unser Turmwächter ist da», hörte er die Menschen einander zurufen, während sie gegen die Flammen kämpften. Und jeder und jede kannte seinen Namen.